Vor kurzem durfte der Chefdirigent der Zürcher Tonhalle, Paavo Järvi, mit seinem Orchester nach vier Jahren Umbauzeit wieder in seine gewohnte Umgebung ziehen und in der restaurierten Halle das Publikum mit Klängen von Beethoven, Mozart, Mahler und Co. beglücken. Gut hundert Jahre früher, in den 1920er- und 30er-Jahren, träumte eine junge Frau namens Antonia Brico davon, vor einem Orchester zu stehen und zu dirigieren – zu der Zeit für eine Frau ein nahezu undenkbares Vorhaben. Zu „führen“, das war Männern vorbehalten. Antonia Brico verfolgte ihren Lebenstraum unbeirrt, trotz allen Hindernissen. Im Spielfilm „Die Dirigentin“, der letztes Jahr in den deutschsprachigen Kinos erschien, sowie im kurz darauf veröffentlichten gleichnamigen Roman erzählt die niederländische Drehbuchautorin und Regisseurin Maria Peters von Antonia Bricos inspirierendem Leben, von ihrer Leidenschaft, ihrem Streben und ihren Kämpfen in der von Männern beherrschten Welt der Musik.
Antonia Brico wurde 1902 in Rotterdam geboren und wuchs in
Kalifornien/USA in ärmlichen Verhältnissen bei Pflegeeltern auf, von denen sie
nur wenig Zuwendung bekam. Als Kind erhielt sie mit zehn Jahren
Klavierunterricht – nicht, weil ihr ihre Pflegeeltern eine musikalische
Erziehung gönnen wollten, sondern auf Empfehlung eines Arztes hin, um dem
Mädchen das Fingernägelkauen abzugewöhnen. Im Dokumentarfilm „Antonia: A
portrait of the woman“, der 1974 veröffentlicht wurde, sagte sie, wie ihr
„einzig die Musik half, nicht den Verstand zu verlieren“. Ein weiterer
Berührungspunkt mit Musik in Antonias jungen Jahren waren die sonntäglichen
Konzerte der Musikkappelle im Park, die sie mit ihrer Familie besuchte und bei
denen sie jeder Bewegung des Dirigenten aufmerksam folgte. Auch durch ihre Jobs
als Platzanweiserin im Konzerthaus und als Jazz-Pianistin im Revuetheater
machte sie wertvolle Erfahrungen. Nach der High School studierte Antonia Brico
Klavier, kam nach Deutschland und machte sich auf die Suche nach einem
Dirigierlehrer. Zuerst von allen belächelt, nahm sich ihr schlussendlich die
damalige Musikgrösse Karl Muck an, der ihr Potenzial erkannte und sie fortan
unterrichtete. Zeitgleich studierte sie Orchesterdirigieren an der Staatlichen
Musikakademie in Berlin. 1930 debütierte sie erfolgreich bei den Berliner
Philharmonikern. Es folgten weitere Konzerte mit namhaften Orchestern, bei
denen sie ihr Talent und ihr Können unter Beweis stellte. Durch die Presse
wurde sie weitum bekannt und ihre Leistung gefeiert. Für Aufsehen sorgte sie
zudem mit der Gründung eines reinen Frauenorchesters – damals absolut
aussergewöhnlich und einzigartig. Trotzdem wurde sie nicht von allen ernst
genommen, sondern im Gegenteil oft belächelt und diskriminiert. So verweigerte
beispielsweise der Opernsänger John Charles Thomas die Zusammenarbeit mit ihr,
da sie als Dirigentin zu viel Aufmerksamkeit bekäme und von seiner Leistung als
Solist ablenke. Antonia Brico hätte im Laufe ihrer rund 60-jährigen
Berufstätigkeit (erst im Alter von 83 Jahren ging sie in Rente!) gerne mehr und
öfters dirigiert. Zeit ihres Lebens erhielt sie jedoch nie eine Anstellung als
Chefdirigentin eines grossen Orchesters, sondern verdiente sich ihren
Lebensunterhalt vor allem als Klavier- und Dirigierlehrerin.
Einige ihrer Schülerinnen und Schüler blicken auf eine erfolgreiche Karriere im
Musikbusiness zurück. Zu ihnen gehört die US-amerikanische Folk-Sängerin Judy
Collins, die den oben genannten Dokumentarfilm „Antonia: A portrait of the
woman“ (1974) über ihre Mentorin drehte. 1986 wurde Antonia Brico, die 1989 in
Denver/Colorado verstarb, in die Colorado Women’s Hall of Fame
aufgenommen.
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Quellen
Wir möchten Frauen und ihrem künstlerischen Werk mehr Präsenz einräumen und ihr Schaffen sichtbarer gestalten. Dabei geht es in erster Linie um ihr Werk, welches in Form eines Porträts auf unserer Webseite beschrieben und interpretiert wird. Ab Januar 2024 hat das bestehende Format «Frauen der Künste» eine Ausweitung auf den Bereich der Wissenschaften erfahren. Den neusten Beitrag zu «Frauen der Künste und der Wissenschaften» präsentieren wir am ersten Freitag des Monats im Newsletter und auf unserer Webseite.