Alfonsina Storni war eine schweizerisch-argentinische Schriftstellerin, die Zeit ihres Lebens die prekäre Lage der Frau literarisch beschrieben hat. Auch ihr eigenes Leben war alles andere als einfach. Der Weg, den sie gewählt hat, war anfangs des 20. Jahrhunderts noch schwerer als für eine Frau in der heutigen Zeit. Alfonsina Storni blieb zeitlebens ledig und hatte einen unehelichen Sohn, den sie allein grosszog. Sie arbeitete als Näherin, als Schauspielerin, als Lehrerin, als Kolumnistin, als Journalistin und als Schriftstellerin, kam knapp über die Runden und nahm sich mit 46 Jahren, im Jahr 1938, das Leben. Alfonsina Storni war an Brustkrebs erkrankt und wollte dieses weitere Leid nicht mehr auf sich nehmen. Selbstbestimmt, wie sie von Anfang an ihr Leben gelebt hatte, so hat sie es auch beendet.
Die Familie Storni, die 1896 vom tessinischen Sala Capriasca, dem Geburtsort von Alfonsina Storni, nach Argentinien emigrierte, lebte zuerst in San Juan, später in Rosario. Der Vater, der mit seinen Brüdern ein florierendes Soda-Unternehmen gegründet hatte, starb 1906, was die Familie in Armut stürzte. Er war während seinen letzten Lebensjahren müde und melancholisch geworden und war aufgrund dessen finanziell nicht mehr so erfolgreich gewesen wie in früheren Jahren. Als er starb, musste Alfonsina die Schule verlassen und verschiedene Arten von Hilfsarbeiten annehmen, damit die Familie über die Runden kam. Alfonsina war das dritte von vier Geschwistern. Was aus ihren drei Brüdern geworden ist, ist nicht bekannt; ihre Mutter heiratete nach dem Tod des Vaters nochmals. 1913 schliesslich zog Alfonsina Storni allein nach Buenos Aires, wo sie bis zu ihrem Lebensende blieb. Ihre Leidenschaft für das Schreiben und das Theater konnte sie in Buenos Aires ausleben, wo sie für etliche Zeitschriften und Zeitungen schrieb. 1913 trat sie der Redaktionsgruppe der Zeitschrift «Nosotros» bei und veröffentlichte ihre ersten Gedichte bei der Zeitschrift «Caras y Caretas». Zudem konnte sie einige Lehraufträge annehmen und lernte bekannte SchrifstellerInnen der zeitgenössischen Literatenszene kennen, unter anderem Horacio Quiroga, ein Meister der Erzählkunst, und Rubén Darío, den wichtigsten Vertreter des Modernismus in Lateinamerika. Im Jahr 1916 erschien «La inquietud del rosal», 1918 «El dulce daño», 1919 «Irremediablemente» und 1920 «Languidez». Weitere Werke folgten, wie «Ocre» 1926, «Poemas de amor» 1926 und weitere mehr.
Der Aufschwung der Lyrik von Frauen ist ein besonderes Merkmal des Postmodernismus in Südamerika, vor allem in Argentinien, Chile und Uruguay. Ihre Form ist einfach, was als Reaktion auf den literarischen, verzierten und geschmückten Vers des Modernismus zu verstehen ist, wie Rubén Darío ihn pflegte. Die einfache Form der Dichtung des Postmodernismus spiegelt sich, wie zum Beispiel bei Alfonsina Storni, in der einfachen Sprache, die umgangssprachlich und schlicht daherkommt. Der Literaturwissenschaftler Hans-Otto Dill spricht auch von der «Durchlässigkeit der Sprache», die klar und schnörkellos ist. Auf diese Weise konnte Alfonsina Storni wichtige Forderungen wie die Gleichberechtigung der Frauen in klaren und deutlichen Worten formulieren. Viele reagierten darauf allerdings mit Kopfschütteln und Unverständnis. Die argentinische Schriftstellerin bediente sich oft und gerne der Sonette, die mit ihrer klaren Struktur – zweimal ein Vierzeiler und zweimal ein Dreizeiler – eine lange literarische Tradition aufweisen.
Wie die chilenische Nobelpreisträgerin Gabriela Mistral, die uruguayischen Lyrikerinnen Juana de Ibarbourou und Delmira Agustini lehnte Alfonsina Storni die klassische Frauenrolle ebenso ab wie die ausschliessliche Hinwendung zu Familie und Privatleben. Die Dichterinnen lebten und schrieben in dieser Spannung zwischen Emanzipationsforderungen und den noch starken machoiden Gesellschaftsstrukturen in Südamerika. Alfonsina Storni und ihre Kolleginnen forderten die Selbstbestimmung der Frau. Themen wie Lieblosigkeit, Kälte, Machismo, Einsamkeit und Gequältheit trieben diese Schriftstellerinnen um. Leider fanden sie nicht selten selbst ein tragisches Ende: Delmira Agustini zum Beispiel wurde von ihrem Ehemann erschossen, weil er ihre Entscheidung für die Scheidung der Ehe nicht akzeptieren wollte.
Einstiegsbild: Alfonsina Storni, Wikimedia Commons, vor 1938
Medien zu Alfonsina Storni in unserem Bestand
Ausstellung «La voz y el mar» («Die Stimme und das Meer») mit öffentlichen Führungen in der Stadtbibliothek Rapperswil-Jona von Januar bis Februar 2023
Hans-Otto Dill, Geschichte der lateinamerikanischen Literatur im Überblick, Reclam, Stuttgart, 1999
Jean Franco, Historia de la literatura hispanoamericana, Editorial Ariel, Barcelona, 1975
Lateinamerikanische Literaturgeschichte, Rössner Michael (Hrsg.), Metzler-Pöschel, Stuttgart, 1995
Wir möchten Frauen und ihrem künstlerischen Werk mehr Präsenz einräumen und ihr Schaffen sichtbarer gestalten. Dabei geht es in erster Linie um ihr Werk, welches in Form eines Porträts auf unserer Webseite beschrieben und interpretiert wird. Ab Januar 2024 hat das bestehende Format «Frauen der Künste» eine Ausweitung auf den Bereich der Wissenschaften erfahren. Den neusten Beitrag zu «Frauen der Künste und der Wissenschaften» präsentieren wir am ersten Freitag des Monats im Newsletter und auf unserer Webseite.